Ein Seminar über Schuld – Luca Guadagninos „After The Hunt“ könnte Julia Roberts den Oscar bringen

Souverän sitzt die Gastgeberin auf dem Sofa und lässt während des Gesprächs das Weinglas immer wieder von einer Hand in die andere wandern. Gerade so, als ob es der teure, rote Tropfen in ihrem Glas nicht wagen würde heraus zu schwappen und den weißen Hosenanzug zu ruinieren, der ihr einen ebenso eleganten wie majestätischen Look verleiht.
Als Philosophieprofessorin hat es Alma (Julia Roberts) im männerdominierten Haifischbecken der Eliteuniversität Yale weit gebracht. Sie genießt höchstes Ansehen, und die Entfristung ihrer Stelle - der Höhepunkt einer jeden akademischen Karriere – ist in greifbare Nähe gerückt.
Alma wird bewundert. Von ihren Studierenden, die sofort verstummen, wenn die Dozentin den Seminarraum betritt und schon auf dem Weg zum Pult Foucault zu analysieren beginnt. Und von den Partygästen, die auf bequeme Sitzmöbel verteilt im intellektuellen Diskurs um ihre Aufmerksamkeit buhlen.
Alma (Julia Roberts) über die Doktorandin, bevor sie von deren #Me-Too-Vorwürfen hört
Da ist ihr langjähriger Freund und Kollege Hank (Andrew Garfield), der auch ihr Liebhaber war, ist oder sein könnte und mit ihr konkurrierend ebenfalls auf eine Festanstellung hofft. Die ehrgeizige Doktorandin Maggie (Ayo Edebiri) himmelt ihre Dozentin nicht nur aus fachlichen Gründen an und hat eine vielversprechende Promotionsarbeit in der Pipeline.
„Maggie ist hochintelligent“, sagt Alma. „Ach ja? Oder hält sie nur dich für hochintelligent“, kontert Ehemann Frederic (Michael Stuhlbarg), der als Psychoanalytiker stets die Außenperspektive auf das universitäre Geschehen einnimmt.

Er kennt Almas Hunger nach Bewunderung nur zu gut. Mit geschliffenem Zynismus beharken sich im Partygespräch die ältere Generation, die sich im darwinistischen Karrierekampf hart nach oben gebissen hat, mit der vermeintlich verwöhnten, jüngeren Generation, der angesichts anhaltender Woke-Debatten geistige Engstirnigkeit unterstellt wird.
Man schreibt das Jahr 2019 und das Klima der Me-Too-Bewegung ist auf dem Campus omnipräsent. Am Tag nach der Party sitzt Maggie vom Regen durchnässt bei Alma im Treppenhaus und bittet um ein vertrauliches Gespräch. Hank habe sie am Abend nach Hause begleitet, sich auf einen Absacker eingeladen und sei zudringlich geworden.
„Er hat die Linie überschritten“, sagt Maggie und hofft auf die solidarische Unterstützung der Professorin, die sich schließlich als ausgewiesene Feministin einen Namen gemacht hat.
Aber Almas Nachfragen sind eher skeptisch als mitfühlend, denn sie realisiert sofort, dass sie sich in einer Zwickmühle befindet, die ihre Karriere ruinieren könnte. Einerseits fühlt sie sich zur Solidarität mit ihrer Studentin verpflichtet, andererseits gerät sie in Loyalitätskonflikt mit ihrem besten Freund Hank, der alle Vorwürfe durchaus überzeugend abstreitet. Er behauptet, Maggie wolle sich mit der Anschuldigung rächen, weil er in ihrer Doktorarbeit Plagiate nachgewiesen habe.
Wer sagt die Wahrheit? Diese Frage steht in Luca Guadagninos ausgefeiltem Campusdrama „After the Hunt“ unentwegt über dem Geschehen und wird bis zum Schluss nicht eindeutig beantwortet. Denn Guadagnino und seiner Drehbuchautorin Nora Garrett geht es nicht um die Klärung, sondern um die Folgewirkungen der Schuldfrage im komplexen akademischen Machtgefüge.
Vor der Kulisse der altehrwürdigen Eliteuniversität entwerfen sie ein weitverzweigtes Netz aus beruflichen Interessenkonflikten, psychologischen Abhängigkeitsverhältnissen und persönlichen Dispositionen. Die sukzessiven Aufdeckungen entwickeln durchaus Thrillerqualitäten, ohne dass „After the Hunt“ sein Thema an die Plotmechanik verrät. Immer tiefer wühlt sich der Film in die Widersprüche ein.
Im Zentrum der Grabungsarbeiten steht eine fantastische Julia Roberts, die hier eine Tour de Force aus Selbstbeherrschung und pointierten Eruptionen vorführt. Timothée Chalamet in „Call Me By Your Name“ (2017), Zendaya in „Challengers“ (2024), Daniel Craig in „Queer“ – Guadagnino weiß, wie er seine Stars ins Licht setzt, aus ihren Komfortzonen herauslockt und zu eindrucksvollen Höchstleistungen animiert.
Mit ihrem strahlenden „Pretty Woman“-Lächeln hat Roberts 1990 das Publikum erobert. „After the Hunt“ führt sie ans andere Ende der Galaxis, wo sich ihre strauchelnde Karrierefrau mit magenbitterer Miene durch den Kulturkampfdschungel und persönliche Traumaerfahrungen schlagen muss. Da dürfte eine Oscar-Nominierung nicht ausbleiben.
Wie seiner Protagonistin macht es Guadagnino auch dem Publikum nicht einfach. Mit beeindruckender Hartnäckigkeit besteht „After the Hunt“ auf der Komplexität seiner Charaktere und ihrer Interessenkonflikte. Hier gibt es keine Sympathieträger. Das Mitgefühl mit den Figuren müssen sich die Zuschauenden selbst erarbeiten.
Das ist eine ebenso anstrengende, wie erhellende Erfahrung. In einer Zeit, in der gesellschaftliche Diskurse vor allem von Polarisierungen und Voreingenommenheit geprägt sind, ist ein absichtsvoll überkomplexer Film wie dieser ein willkommenes Gegengift.
„After the Hunt“, Regie: Luca Guadagnino, mit Julia Roberts, Andrew Garfield, Ayo Edebiri, 139 Minuten, FSK 12 (Kinostart am 16. Oktober)
rnd